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11.12.2014 · IBA Magazin

Geras starke Mitte

„Wir sagen einfach Zentraler Platz. Der Platz hat keinen Namen.“ Die Aussage ist überraschend, denn sie kommt von Ramon Miller, Geras oberstem Stadtplaner. Der Leiter des Bau- und Umweltdezernats steht auf der Empore des Kultur- und Kongresszentrums in Geras Stadtmitte und erklärt die Geschichte der großen Freifläche zu seinen Füssen. 200 Meter lang und 70 Meter breit ist der Zentrale Platz, eine Brachfläche inmitten der Stadt, die mit Rasen und ein paar Bäumen in großen Blumenkübeln einen Platz mehr simuliert als darstellt.

 

Bis vor 40 Jahren befand sich hier ein Teil von Geras Altstadt mit Wohn- und Geschäftshäusern und engen Gassen. Ende der 1970er Jahre mussten die Häuser den Modernisierungsvorstellungen der damaligen Zeit weichen. Gera war Bezirkshauptstadt, hatte 140.000 Einwohner und entsprechende Aufgaben zu erfüllen, nicht zuletzt Repräsentationsaufgaben. Das neue Haus der Kultur, heute: Kultur- und Kongresszentrum, wurde am Hang der Altstadt errichtet, Treppen und ein gestalteter Platz – halb so groß wie der heutige – führten hinunter zur autogerecht ausgebauten Breitscheidstraße, auf der auch die Mai-Paraden abgehalten wurden. Elfgeschossige Wohnhäuser in Plattenbauweise und ein Interhotel entsprachen dem damaligen städtebaulichen Leitbild.

 

Paraden gibt es heute keine mehr und die autogerechte Stadt gilt auch nicht mehr als zeitgemäß. An der Stelle des Interhotels steht heute ein austauschbares Einkaufszentrum, auch die Plattenbauten wurden ab 1996 schrittweise abgerissen, die Treppen und die Platzgestaltung beseitigt. Was aber stattdessen mit dem vergrößerten und ungestalteten Platz geschehen sollte, war unklar – und ist es bis heute. In Geras Herz klafft seit über zehn Jahren ein großes Loch.

 

 

Lebenswerte Stadt mit urbaner Mitte

 

2014 hat die Stadt das Integrierte Stadtentwicklungskonzept (ISEK) GERA2030 beschlossen, das unter breiter Beteiligung der Bürger entwickelt wurde. Der Handlungsrahmen sieht vier Handlungsfelder für die weitere Entwicklung Geras bis 2030 vor. Eines lautet: „Lebenswerte Stadt mit urbaner Mitte“. Nachdem in den vergangenen 25 Jahren aus Mitteln der Städtebauförderung der Marktplatz mit seinem Rathaus aus dem 16. Jahrhundert, die Fußgängerzone und viele historische Strassenzüge vor dem Verfall gerettet wurden, wird jetzt die gesamte Innenstadt in den Blick genommen. Konkret geht es dabei unter anderem um die Brachfläche am Kultur- und Kongresszentrum. Sie prägt das Antlitz der Stadt – und das nicht zu ihrem Vorteil. Gera muss etwas tun. Aber was? Thomas Leidel, Baudezernent und IBA-Beauftragter der Stadt Gera hat recht konkrete Vorstellungen: „In zehn Jahren stelle ich mir die Fläche als den interessantesten, bebauten, begrünten und quirlig genutzten Zentrumsteil der Innenstadt vor – urban und modern.“ Ob diese Vision Wirklichkeit wird oder andere Ideen realisiert werden, soll jetzt gemeinsam mit den Bürgern ausgehandelt werden.

 

Zu Stärken der Stadt gehört das starke bürgerschaftliche Engagement – ohne das auch das ISEK selbst nicht denkbar gewesen wäre. Wichtiger Aktivposten sind Vereine und Initiativen wie Ja – für Gera e.V., in dem sich fast 300 Bürger, Vereine und Unternehmen engagieren. Der Verein beschäftigt sich vor allem mit der Innenstadt, kümmert sich mit Aktionen wie einem jährlichen Frühjahrsputz um die Sauberkeit des Zentrums und der Grünanlagen. Das Hauptaugenmerk legt der Verein aber auf leerstehende Ladenlokale und vom Leerstand geprägte Strassenzüge. Und es war der Verein, der die Mitte von Gera als IBA Projekt vorgeschlagen hat.

 

Leerstand ist ein Problem in Gera, der drittgrößten Stadt Thüringens. Heute wohnen hier trotz Eingemeindungen 95.000 Menschen – also rund ein Drittel weniger als 1990. Neben den Wohnhäusern am Zentralen Platz mussten daher zahlreiche weitere Plattenbauten, vor allem am Stadtrand, abgerissen werden. Über 6.400 Wohnungen wurden beseitigt. Dennoch stehen heute 12.000 Wohnungen leer.

 

Auch das Zentrum mit seinen Häusern aus der Gründerzeit ist davon betroffen. Fast ein Viertel der Wohnungen und Geschäftsflächen steht leer. Ja – für Gera hat daher den innerstädtischen Steinweg zu einem seiner Arbeitsschwerpunkte gemacht. In der MangelWirtschaft, einem vom Verein als Treffpunkt hergerichteten Ladenlokal im Steinweg, zeigt der Vereinsvorsitzende Christian Tauchert Fotos von der Veränderungen in der Nachbarschaft: Darauf stehen fast alle Häuser in der Straße leer, Schaufenster sind verhängt, Hauseingänge und Fenster vernagelt, der Putz bröckelt.

 

 

Bürgerschaftliches Engagement gegen den Leerstand

 

Doch es gelang dem Verein eine temporäre Bürgergalerie, einen Bürger-Treff, Thüringens kleinstes Pantoffelkino und andere Zwischennutzungen zu etablieren und Straßenfeste zu organisieren. „Unser Motto lautet: Erst kaschieren – dann investieren“, sagt Tauchert. Das Ergebnis ist draußen zu sehen: Fassaden werden saniert, Wohnungen und Läden umgebaut und modernisiert, die ersten Nutzer und Bewohner ziehen ein. Auch das Haus, in dem sich die Mangel Wirtschaft befindet, hat gerade einen Investor gefunden. „Wenn die Wunde sich zu schließen beginnt, gehen wir raus – und in die nächste Wunde rein“, formuliert Tauchert.

 

Größte Wunde ist zweifelsohne die große Brache am Kultur- und Kongresszentrum, jener städtebauliche Bruch an der Schnittstelle von Altstadt und Westvorstadt. Der Verein bringt sich auch hier mit Ideen ein, um das funktionale und gestalterische Vakuum zu schließen. Dieses bürgerschaftliche Engagement wird durch die Stadt gefördert. Seit der Gründung des Vereins im Jahr 2002 arbeitet er mit der Stadt zusammen. In seinen Beiräten sitzen auch Kommunalpolitiker und Verwaltungsmitarbeiter.

 

Ein anderes Beispiel für die Stärke der Zivilgesellschaft ist das Engagement des Fördervereins Goethe-Gymnasium. Die auch als Rutheneum bekannte innerstädtische Schule mit musikalischem Schwerpunkt liegt derzeit auf mehrere Standorte verteilt und könnte zu einem Campus zusammengefasst werden und der Innenstadt weitere Impulse geben. Der Förderverein brachte in kürzester Zeit die von der Stadt benötigten Eigenmittel zusammen, um einen Architekturwettbewerb auszuloben.

 

Gerade unter der schwierigen Situation des kommunalen Haushalts in Gera ist diese vernetzte Stadt mit ihrer gewachsenen Kultur des Vertrauens und der Zusammenarbeit die besondere Chance bei der Suche nach gemeinsamen Zielen für die Innenstadt und den Zentralen Platz. Wo sieht sich Gera in 10, 20 in 30 Jahren? Ein umfassendes Leitbild, ein Rahmenplan muss her. Ob am Ende auf der Freifläche ein flexibler Rahmen für qualitätsvolle Zwischennutzungen geboten wird, ein dauerhafter Park angelegt wird oder ein gemischtes, lebendiges Quartier – das wird der offene Aushandlungsprozess zeigen. Die IBA steht dafür Pate, dass diese Lösung auch radikal neu und anders gedacht werden kann.

 

 

Gera als Modell für andere Städte?

 

Obwohl Gera eine bewegte Geschichte und viele Besonderheiten aufweist, ist es doch exemplarisch für viele schrumpfende Städte mit begrenzten Mitteln. In der DDR prosperierte neben den traditionellen Industriezweigen Textil und Glas auch der Uranbergbau. Nach 1990 jedoch wurde der Bergbau eingestellt, die anderen Industriezweige brachen fast vollständig weg. Die Stadtwerke – heute drittgrößter Arbeitgeber in Gera – meldeten 2014 Insolvenz an, ebenso die Verkehrsbetriebe. Es fehlen Gewerbesteuern und damit Einnahmen, die Ausgaben hingegen sind auch wegen der Arbeitslosenrate von 12 Prozent (2009: 19%) hoch. Aktuell hat Gera keinen gültigen Haushalt, steht unter Kommunalaufsicht der Landesregierung und darf nur noch „unabweisbare und unaufschiebbare Ausgaben“ tätigen – etwa für den Brandschutz in Schulgebäuden. Vereinfacht gesagt: Das früher so reiche Gera ist pleite. Es ist also höchste Zeit umzudenken.

 

„Es gilt, gemeinsam eine zukunftsfähige Lösung zu finden, die auch in Zeiten einer Haushaltssperre umgesetzt werden kann,“ sagt Baudezernent Ramon Miller. „Die Stadt kann keine Geldmittel einbringen, hat aber die Planungshoheit.“ Wie kann eine klamme Stadt ihre Aufgaben erfüllen und auch weiterhin Stadtentwicklung betreiben? Welche Möglichkeiten zur Aktivierung privater Investitionen gibt es? Welche Rolle kann eine Stadt mit partnerschaftlichem statt hoheitlichem Rollenverständnis spielen – und welche Rolle die Zivilgesellschaft? Bürgerstiftungen und Public Private Partnership sind bekannte Modelle. Bei der Suche und Erprobung neuer, innovativer Formen der kooperativen Planung kann Gera zum Zukunftsmodell werden. Viele Kommunen sind wie Gera nicht weit von der Zahlungsunfähigkeit entfernt. Aber kaum eine Kommune kann auf ein so breites bürgerschaftliches Engagement bauen wie Gera.

 

„Wenn es an etwas in Gera nicht fehlt, dann ist es das Engagement der Geraer für ihre Stadt“, so Oberbürgermeisterin Dr. Viola Hahn. „Geraer bewegen unzählige Initiativen, sie organisieren Veranstaltungen, sie mischen sich ein, schieben Entwicklungen an. Mit dem Projekt der vernetzten Stadt in Kooperation mit Ja – für Gera und mit der IBA können wir dieses Engagement stärken. Wenn uns damit Beispielhaftes für Thüringen und darüber hinaus gelingt, gibt es im Jahr der Bauausstellung 2023 einen Grund mehr, Gera als spannenden Ausstellungsort zu besuchen.“

 

Im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen und mit Unterstützung von Experten und Hochschulen soll die angestrebte vernetzte Stadt Wirklichkeit werden und gemeinsam eine zukunftsfähige Rolle und Gestalt für Geras Mitte gefunden werden. Dabei kann die bereits heute ausgeprägte Verfahrens- und Kommunikationskultur zum Fundament für eine später ebenso hohe Baukultur werden.

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